 
            Die Kunst des Aufklebens
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In unserer Gegend ist Street Art allgegenwärtig. Eine Mischung aus Tags und Pieces bedeckt die Wände der Nachbarschaft und ein Flickwerk aus Stickern schmücken die Laternenpfähle. Schon in den Höhlen der Steinzeitmenschen war Kunst Teil des "öffentlichen" Raums und hat dort den Samen gepflanzt für die vielen Kunstepochen, die wir bisher erlebt haben.
Als Teil unserer lebendigen Kulturen verbindet uns Kunst oft auf unerwartete Weise. Eben eine solche Connection lässt sich zwischen einem alten japanischen Brauch namens Senjafuda und zeitgenössischer Street Art ziehen.
Nicht die NYC-U-Bahn
Es war nicht der Brooklyn-Queens L-Train, der zur Geburt von Street Art beigetragen hat, sondern Tempelanlagen im des Japan des 8. Jahrhunderts. Pilger ließen in dieser Zeit Holzplättchen als Opfergaben zurück, auf denen persönliche Signaturen, Nachrichten oder Wunschgebete geschrieben standen. Während der Edo-Periode (1603-1868) entwickelten sich diese Holzopfergaben zu Papierstreifen, was die Herstellung individueller Designs bequemer machte. Sammler und Enthusiasten bildeten Tauschgruppen namens Kokan Nosatsu und verwandelten diese sakralen Stücke in gefragte Kunstwerke.
Was als einfache religiöse Opfergaben begann, verwandelte sich in eine künstlerische Disziplin. Der Wechsel des Materials von Holz zu Papier ermöglichte Künstlern zunehmend ausgefeiltere Designs zu schaffen und mit Kalligrafie, Bildsprache und Farbe zu experimentieren.
Und wo Kunst gedeiht, sind Sammler nicht weit. Engagierte Clubs begannen sich zu organisieren und halfen dabei, eine breitere Wertschätzung sowohl für die Handwerkskunst als auch für den künstlerischen Wert von Senjafuda zu etablieren.
Platzierung ist alles
Obwohl sich Werkzeuge und Methoden in der heutigen Produktion von Street Art unterscheiden, so gibt es doch auch Gemeinsamkeiten mit den Papierstickern der Edo-Zeit. Genau wie Senjafuda-Praktizierende ihre Platzierung in Tempeln und Schreinen sorgfältig wählten, überlegen Street Artists, wie ihre Arbeit mit der urbanen Umgebung interagiert. Beide verwandeln öffentliche Räume durch Kunst in etwas Eigenes und wählen Orte, die ihrer Arbeit maximale Wirkung und Bedeutung verleihen.
Bei Senjafuda ist es entscheident den Schrein-Tag so hoch wie möglich zu positionieren, um ihn maximal sichtbar zu machen oder ihn vor Sonnenlicht und Korrosion zu schützen. Eine No-No-Regeln in diesem Zusammenhang ist das überrkleben eines bestehenden Aufklebers. Ebenfalls eine fundamentale Etiquette in der heutigen Graffiti-Szene.
Ein Stab namens Sao wird verwendet, um die Sticker zu positionieren und sie in einer Höhe von fast sieben Metern zu befestigen. In gleicher Weise verwenden heutige Street Art Künstler wie z.B. Shepard Fairey Pinsel, die an einer Stange befestigt sind, um ihre Kunstwerke an der richtigen Stelle zu platzieren.
Der Wandel der Zeit
In Japan ist es ist immer noch möglich, traditionell hergestellte Senjafuda zu erwerben. Dies erfordert allerdings ein ganzes Team von Handwerkern: Der Kalligraf, der Schnitzer (um den Holzblock für den Druck vorzubereiten) und der Drucker – alle spielen hierbei eine wichtige Rolle bei der Produktion. Das Format wurde aber auch von einer jüngeren Generation von Designern und Künstlern übernommen, die nun Themen von Manga bis Pop-Kultur verwenden, um moderne Sticker-Kunst mit digitalen Methoden zu schaffen.
Street Art hat eine ähnliche Transformation wie Senjafuda hinter sich. Ein Banksy-Werk ist jetzt nicht länger an einer Häuserwand sindern in einem Museum zu bestaunen. Was sich für manche wie eine Fehlplatzierung anfühlt, ist für andere wie ein Schritt in eine neue Richtung. Egal, wie man zu solchen Entwicklungen steht, die grundlegende Idee hinter beiden Kunstformen bleibt unverändert: ein Zeugnis menschlicher Kreativität zu sein, welches seine Spuren hinterlässt.
Danke fürs Lesen. Bleib neugierig!
 
               
              
             
              
             
              
             
              
 
              
 
              
